Geschichten

Wenn du uns von eurer Begegnung erzählen willst, weil sie ermutigend für andere ist, dann schick uns deine Geschichte an
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Es können zwei bis drei Sätze oder mehr sein, aber maximal eine Seite.
Wir veröffentlichen hier Geschichten ohne Namen zu nennen.

Vor ungefähr drei Jahren ist mein bester Freund auf einen Kaffee bei mir vorbeigekommen. Natürlich wusste ich da schon, dass wir in politischer Hinsicht an verschiedenen Enden derselben Geschichte stehen, doch ich konnte nicht erahnen was für ein Abend auf uns zukommen würde. Wir sind im Laufe des Abends von politischen Themen in eine Grundsatzdiskussion geraten, die uns vor Augen geführt hat, dass wir auch bei elementaren Grundsatzfragen nicht einer Ansicht waren.

Für einen Moment hatte ich fürchterliche Angst. Angst, wer vor mir sitzt. Angst, wie ich dazu stehe. Angst, ob ich seine Grundsatzantworten vertreten kann…
Und ich hatte zwei Möglichkeiten: Entweder ich klage an, gehe und erzähle der Welt, wie sehr ich im Recht stehe. Oder ich bleibe sitzen, höre zu und öffne mich für einen neuen Zugang, um die Welt besser zu verstehen. Ich habe mich für Zweiteres entschieden.

Nach drei langen Stunden, in denen wir beide diskutiert, argumentiert und gar verhandelt haben, sind wir beide zu dem Punkt angelangt, dass wir vielleicht andere Wörter verwenden, aber immer noch dieselbe Sprache sprechen. Denn wir kommen beide aus dem Ort des Herzens und setzen das Gemeinwohl vom Menschen in den Mittelpunkt. Vielleicht auf andere Art und Weise, aber dennoch leidenschaftlich und bestimmt.

Nachdem wir dies beide realisiert haben, mussten wir beide kurz durchatmen und waren sichtlich erleichtert. Denn wir hatten uns beide nicht im Moment der Angst verloren.
Da wir beide nicht angeklagt, sondern zugehört haben, haben wir etwas Neues erschaffen: ehrliches und tiefes Verständnis für die Gegenseite, die genauso eine Seite der eigenen Ansicht darstellt. Vielleicht nur auf den ersten Blick etwas verdeckt. Gerade durch die Bereitschaft von uns beiden sich auch auf ehrliche Weise der Gegenseite zu öffnen, hat unsere Freundschaft an noch mehr Tiefe und Liebe gewonnen.

Meine beste Freundin und ich sind unterschiedlicher Meinung, was die Covid-Impfung angeht. Die genauen Gründe weshalb, wusste ich nicht, da ich irgendwann nicht mehr danach gefragt habe. Unsere Freundschaft blieb bestehen, wir hatten unsere tiefen Gespräche über Gott und die Welt, aber das Thema Corona und die Impfung wurde einfach ausgeklammert. Als ich ihr erzählt hab, dass ich mich impfen lasse, hat sie mich darin bestärkt. Sie jedoch ist bis heute ungeimpft.

Jetzt wollte ich das Thema aber einfach mal ansprechen. Wir haben einen Spaziergang gemacht: ein schöner Winternachmittag, ein Coffee To Go und meine innere Einstellung, dass ich zuhören und nicht anklagen will.  Mit dieser Ausgangssituation fragte ich sie: „Wie geht es dir eigentlich mit Corona und der anstehenden Impfpflicht?“ Genau diese kleine Frage hat das in den Mittelpunkt gestellt, was wir im letzten Jahr immer ausgelassen haben. Und durch diese Frage hat sich so viel geöffnet – in beiden von uns. Sie hat mir ihre Gründe erzählt, ihre Geschichte und ihr Herz ausgeschüttet. Und plötzlich wusste ich, dass mein Bild von der Situation ganz falsch war.

Dieses Gespräch hat uns beiden eine neue Tiefe in der Freundschaft geschenkt. Wir haben gemerkt, dass wir auch über die Dinge, bei denen wir nicht gleicher Meinung sind, reden können, ohne uns gegenseitig zu verurteilen. Dieser Spaziergang hat unsere Augen und unser Herz geöffnet und uns freier und noch authentischer in unserer Freundschaft gemacht. Alles, was es dafür gebraucht hat, war ein Aufeinander-Zugehen, mal nicht selbst zu reden und stattdessen zuzuhören, was meine Freundin antwortet auf die Frage: „Wie geht’s dir denn eigentlich mit dem, über das wir nie reden?“

In der Covid-Zeit hatten viele Orte nur eingeschränkt geöffnet. Es waren zusätzlich für mich Zeiten, wo ich Schicksalsschlägen ausgesetzt war und demzufolge eingeschränkte Kräfte hatte. Die Türen eines christlichen Hauses waren für mich in der mehrfach komplizierten Situation offen.

Die Freund:innen in diesem Haus haben mir einen Raum für meine Forschungsarbeit zur Verfügung gestellt. Das Haus wurde für mich zu einem zweiten Zuhause – einem Lernort und einem Rückzugsort zum spirituellen Tanken und zur interreligiösen Begegnung von Herz zu Herz. Ich habe nach wenigen Wochen entschieden, mindestens 3 Mal in der Woche für 4 Stunden dort zu arbeiten, um besser voran zu kommen.

Am ersten Tag des neuen Plans bin ich gegen Mittag  ins Haus gekommen. Ich wollte mich schnell im Gebet vorbereiten, um danach zu arbeiten. Die Tür der Kapelle war offen und eine Freundin winkte mir von drinnen zu – Du bist herzlich willkommen.

Ich nahm mir vor, mein Gebet und die Arbeit später nachzuholen, aber aus Höflichkeit und Wertschätzung in die Kapelle zu gehen. Als ich den Raum betrat und Platz nahm, waren rechts und links von mir alle in Demut und im Gebet konzentriert. Anwesend waren Student:innen, Frauen, Männer, Ältere und Jüngere. Da dachte ich mir, dass ich auch hier „versuchen“ kann mitzubeten. Innerlich hatte ich eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob ich nicht besser gehen sollte, um mein Gebet zu „erledigen“ und mit der Arbeit endlich anzufangen.

Während dieser Auseinandersetzung lächelten und nickten mir mehrere bekannte Gesichter zu. Es hat nicht lange gedauert, bis ich ins Gebet „rutschte“ und im Gespräch mit Gott war, sodass ich nach und nach meine Umwelt und die betenden Menschen gar nicht mehr wahrgenommen habe. Ich habe einen Teil mit den Anwesenden mitgebetet und einen Teil allein gebetet. Nach dem Gebet sind alle zum Mittagessen gegangen. Ich blieb im Raum, um mein „muslimisches“ Gebet zu verrichten. Als ich das Gebet mit der Eröffnungsruf „Allahu akbar“ – Gott ist größer – begann, stoppte ich und dachte mir: Gott ist wirklich größer. ER ist größer als dieser Raum, größer als die eine oder andere Religionsgemeinschaft. Er ist größer, als dass wir ihn in einem Haus oder in einem Ritual einschränken könnten. Das war für mich ein Höhepunkt, wofür ich der Freundin und dem Haus für diese Möglichkeit und diese Erkenntnis bis heute dankbar bin. Ein paar Monate später las ich ein interessantes Zitat des großen Mystikers und Sufi-Meisters Dschalāl ad-Dīn ar Rūmī, das darauf zutreffend war:

 „Ich versuchte, ihn zu finden am Kreuz der Christen, aber er war nicht dort. Ich ging zu den Tempeln der Hindus und zu den alten Pagoden, aber ich konnte nirgendwo eine Spur von ihm finden. Ich suchte ihn in den Bergen und Tälern, aber weder in der Höhe noch in der Tiefe sah ich mich imstande, ihn zu finden. Ich ging zur Kaaba in Mekka, aber dort war er auch nicht. Ich befragte die Gelehrten und Philosophen, aber er war jenseits ihres Verstehens. Ich prüfte mein Herz, und dort verweilte er.“

Ich habe irgendwie gar keine Lust mehr, mich mit Gräben und Streitereien zu beschäftigen, obwohl ich mich durchaus als Realist bezeichnen will. Ich leite ein Team von zehn Leuten im kirchlichen Kontext, und in vielen Bereichen gibt es immer wieder unterschiedliche Meinungen, nicht nur zu aktuellen Themen. So weit, so normal.

Worauf habe ich Lust? Auf das, was uns als Team gemeinsam weiterbringt. Was uns hilft, für die Menschen um uns herum da zu sein, einen weiten Blick und ein großes Herz für bunte Typen zu haben und sie in ihrer Unterschiedlichkeit ernst zu nehmen. 

Und: Ich habe Lust auf gutes Essen in netter Atmosphäre. Gerade in der Beziehung mit einer Person aus meinem Team, die anderer Meinung ist als ich (ja eh, es geht um Corona), hilft ein gemeinsames Essen sehr. Wir laden uns regelmäßig zum gemeinsamen Kochen und Essen ein. Das ist für mich wie aus einer Blase herauszutreten, in der jeder von uns ein wenig drinsteckt – wo wir dann nur noch die hören können oder wollen, die sowieso unserer Meinung sind. Ich mache einfach Schluss damit, ich gebe Corona nicht die Macht über mich und meine Beziehungen.  Ich habe eine Meinung, einen Standpunkt, manchmal diskutieren wir darüber, aber nicht mehr sehr oft. Es gibt andere Themen, schönere Geschichten, Dinge, die uns tiefer berühren – darüber möchte ich reden und zeigen, wie wichtig mir mein Gegenüber ist.

Nebenbei lerne ich als passionierter Weißweintrinker, den ein oder anderen tollen Rotwein kennen und mein Gegenüber die Vielfalt der Weißen. So beginnen Gespräche und wir beide rücken zusammen. Ganz schlicht, ganz einfach, ganz normal.

Ein alter Freund von mir ist Querdenker. Er war schon immer etwas zurückgezogen, vor allem aber erlebte ich ihn oft als Sturkopf. Wenn ihm etwas gegen den Strich ging, dann hat er sich in seinen Standpunkten meistens einzementiert – auch bei Kleinigkeiten. Das klingt jetzt schlimmer, als es war. Grundsätzlich ist er ein liebenswerter Mensch, mit dem ich viel erlebt habe.

Als ich ihn vor einem Jahr am Heldenplatz (nein, bei keiner Demo, sondern beim Skaten) sah, erzählte er mir lang und breit, warum Corona ein Blödsinn sei, wie das Wirtschaftssystem sabotiert werde und so weiter. Ich habe ihm lange zugehört und Fragen gestellt. Mein Eindruck war, dass er sich verlaufen hat. Seitdem habe ich ehrliche Sorge, dass er noch weiter in etwas abdriftet, aus dem sein Stolz ihn nicht entkommen lässt. Ich habe ihn seit diesem Tag am Heldenplatz nicht mehr gesehen, ich höre nur, dass er tiefer in einen allgemeinen Widerstand verfällt.

Für mich sind die Grenze, ab der ich selbst keinen Dialog mehr führen könnte, Staatsverweigerung oder gar Gewalt. Aber solange er Theorien erzählt, die für mich absurd sind: Würde ich ihn jetzt ein Jahr später wieder am Heldenplatz treffen, ich würde wieder zuhören und Fragen stellen. Weil er es mir als Mensch und vor allem als Freund wert ist.

Ich denke, es ist wichtig, das Trennende in solchen persönlichen Fällen hintenanzustellen. Wir wissen beide, dass wir anderer Meinung sind. Durch Aggressionen werden wir uns allerdings nicht näherkommen oder gar vom Gegenteil überzeugen. Was es in meinen Augen braucht, sind Geduld und meine Bereitschaft, den anderen, den ich doch eigentlich so schätze, nicht aufzugeben. Das macht echte Freundschaft aus.

Endlich gebe ich mir einen Ruck und rufe meine alte Freundin an. Ein Jahr lang war Funkstille, ich war verwirrt über ihre Ansichten zu Corona. Jetzt bin ich entschlossen, ihr einfach zuzuhören und nicht zu widersprechen. Sie kommt schnell auf das Thema Corona zu sprechen: Die Impfung gegen Corona bezeichnet sie als unausgegorene „Experimentalspritze“, an der sich die Pharmaindustrie bereichert. Politiker sind ihrer Ansicht nach alle korrupt, sie haben kein Recht über ihren Körper zu verfügen, die Presse stecke mit den Politikern unter einer Decke und berichte tendenziell. Corona –  vor allem Omikron – sei ein harmloser Schnupfen. Während wir telefonieren, ist meine Freundin auf dem Weg zur Beerdigung einer Freundin, die vermutlich an den Folgen der Impfung gestorben ist. Sie sagt, sie kenne niemanden, der an Corona gestorben sei, wohl aber Menschen, die von der Impfung geschädigt sind.

Ich höre zu. Schweige. Versuche meine Gegenrede zurückzuhalten. Fühle mich wie ein naives, dumm-gutgläubiges Kind, das glaubt, dass „die da oben“ es schon richtig machen, gut informiert sind und einschätzen können, was nötig ist.

Ich erzähle ihr, dass ich mich schwer tue mit ihren Ansichten, sie bezweifle. Dass ich sie als alte Freundin aber sehr schätze und den Kontakt nicht abbrechen will. Dass ich mitbekomme, wie Freundschaften an diesen unterschiedlichen Positionen zerbrechen, Risse durch Familien gehen …

Sie sagt, „niemals wird eine meiner Freundschaften wegen unterschiedlicher Ansichten zerbrechen. Wir können streiten, aber die Freundschaft bleibt.“ Sie lacht, ihr fröhliches humorvolles Lachen, das ich so liebe. Und das Verkrampfte ist wie weggeblasen. Nach dem Gespräch bin ich  erleichtert, aber immer noch ein bisschen verwirrt.

Anschließend gehe ich in die Stadt und sehe plötzlich die Welt mit ihren Augen: welcher Wahnsinn! Überall Kontrollen, 2 G-Regeln, die Ungeimpfte ausschließen. Ich denke an die Schüler, die im Homeschooling sind, die berufstätigen Eltern, die sich neben ihrer Arbeit noch um den Unterricht ihrer Kinder kümmern müssen – was für ein unglaublicher Mehraufwand! Ich sehe die Situation mit den Augen meiner Freundin und fühle mich wie im Orwellschen Überwachungsstaat. Ungeimpfte sind vom Großteil des öffentlichen Lebens ausgeschlossen, meine Freundin kann zur Beerdigung ihrer Freundin in Frankreich nur mit einer Sondergenehmigung mit dem Zug fahren, sonst muss sie als Ungeimpfte für größere Strecken das Auto nehmen.

Das Mich-Hineinversetzen in die Gedankenwelt meiner Freundin hat etwas in mir verändert. Die Angst, dass unsere Freundschaft zerbrechen könnte, ist verflogen. Es tat mir gut, für ein paar Stunden die Welt mit ihren Augen zu sehen. Auch wenn ich am Tag danach die Welt wieder aus dem alten Blickwinkel sehe: Ich bin froh, dass mittlerweile so viele Menschen geimpft sind und das grauenhafte Sterben auf den Intensivstationen weniger wird. Bin dankbar, dass meine alte Mutter und ich geimpft sind, und ich sie ohne Angst besuchen kann.

Die vermeintlich doch so einfache Frage „Wie geht es dir?“ kam mir dieses eine Mal wirklich schwer über die Lippen. Nicht, weil sie schwierig ist, oder ich nicht ehrlich an meinem Gegenüber interessiert bin – ganz im Gegenteil. Es fiel so schwer, weil ich das Gefühl hatte, dass eben dieses „Wie geht es dir?“ nicht genug ist. Tatsächlich gibt es keinen richtigen thematischen Graben zwischen mir und meinem Verwandten.

Er liegt mir sehr am Herzen, eben auch, weil ich weiß, dass er es in der Familie nicht leicht hat, milde ausgedrückt. Hin- und hergerissen zwischen zwei Elternteilen, wenig Zuspruch von beiden Seiten. Egal, was er tut. Harte Worte, wenig Liebe, kurz gesagt. Dass man gerade in der Jugendzeit rebelliert, ist an sich nichts Ungewöhnliches. Doch in den letzten paar Jahren hat er sich sehr verändert. Ich mich auch. Ich bin von zuhause weggezogen, habe ein neues Leben begonnen.

Und immer das leichte Gefühl gehabt, dass ich ihn im Stich ließ. Aus der Ferne konnte ich nicht wirklich helfen. So sehr ich das auch versuchte, er entglitt immer mehr, mir und allen anderen um ihn herum. Es wurde alles egal, zu tieferen Gesprächen kam es einfach nicht mehr, wurde irgendwie unmöglich. Oberflächliches Witzeln können wir gut miteinander, aber das war es dann auch schon wieder. Er schloss alle um sich aus seinem Leben aus, stumpfte ab. Das mitanzusehen tut irrsinnig weh.

Vor allem, wenn die einzig für ihn interessanten Dinge Videospiele, Alkohol oder was weiß ich noch sind. Nach Monaten, in denen wir keinen Kontakt hatten, versuche ich gerade, mich ihm wieder anzunähern. Da ist dann die Frage „Wie geht es dir?“ die offensichtliche Wahl für den Einstieg in einen Dialog. Auch wenn es so viel mehr gibt, das ich ihn fragen, das ich ihm sagen möchte.

Aber es ist ein Anfang. Mit nur einer Stunde Gespräch wird unser Verhältnis wahrscheinlich nicht langfristig besser werden. Trotzdem ist es mein Versuch, ihm zu signalisieren, dass ich ihn nicht aufgegeben habe und daran glaube, dass wir uns wieder annähern können. Weil ich mir das so sehr wünsche und hoffe, dass er es auch tut. Jetzt kann ich nur hoffen, dass aus diesem oberflächlichen Abklopfen der Befindlichkeiten bald wirklich ein Gespräch werden kann, das diese Wieder-Annäherung ermöglicht.

Eine gute Freundin aus Jugendtagen ist vor Jahren in ein anderes Land gezogen, hat geheiratet und einen Beruf ergriffen, zu dem ich so gar keinen Zugang habe. Hin und wieder haben wir uns gesehen, sonst immer wieder mal Nachrichten geschrieben. Manche Nachrichten und Social-Media-Posts der letzten Zeit fand ich eher erschreckend, weil sie so konträr waren zu dem, was ich mir zur derzeitigen Weltlage und gesellschaftlichen Situation denke. Vielleicht habe ich den Kontakt daher in den letzten beiden Jahren eher vermieden.

Irgendwann ist mir das bewusst geworden, mir gedacht „Das kann’s ja nicht sein!“, und den Kontakt wieder aufgenommen. So hatten wir vor kurzem ein langes Videotreffen. Es war richtig schön! Wir haben gar nicht bewusst vermieden, über unsere gegensätzlichen Meinungen zu reden, es hat sich einfach nicht ergeben. Zuviel war über unser jeweiliges Leben, unsere Arbeit, unsere Familien auszutauschen. Und ich habe ganz bewusst endlich einmal viel nachgefragt. Vor allem über ihre Arbeit, die mir so fremd ist. Ich habe zugehört und immer noch mehr Fragen gestellt, weil ich sie so gerne verstehen wollte. Und plötzlich habe ich von dem mir Fremden ganz viel mehr verstanden.

Habe erkannt, warum meiner Freundin das so wichtig und wertvoll ist, was sie tut. Habe wieder gesehen, was uns verbindet und nicht das, was uns trennt. Ich glaube, wir werden bald wieder ein Videomeeting haben, und ich freue mich darauf!

Schwer im Magen lag mir selbst nach zwei Jahrzehnten die harsche Zurückweisung einer Gesprächseinladung an einen bekannten Künstler. Ich wollte nicht aufgeben und wagte vor einiger Zeit dann doch noch einmal den Versuch einer Begegnung. Also, damals vor 20 Jahren ging es um einen Dialogversuch über Kunst mit Menschen unterschiedlichster politischer bzw. weltanschaulicher Richtung. Das alles in einem relativ privaten Rahmen. Ich habe noch gut im Kopf, dass der Eingeladene uns mitteilte, dass ihm nichts ferner läge, als sich mit einem Vertreter der Kirche ‚vertraulich‘  zusammenzusetzen; ein solcher war nämlich bei dieser ersten Gesprächsrunde auch zugegen. Der Künstler lehnte die Kirche zutiefst ab. Auch öffentlich. Dass er sie hasste, hatte er zwar nicht gesagt, aber so kam es direkt bei mir an. Noch dazu hätte für ihn in einem privat-vertrauten Rahmen solch eine Begegnung womöglich auf ein freundschaftliches Miteinander hindeuten können – und genau das wollte er in jedem Fall ausschließen.

Beim zweiten Anlauf hatten wir ihn nun zu einem Gespräch mit dem Vertreter einer karitativen NGO in einem etwas öffentlicheren Ambiente geladen. Seine überraschende Zusage freute mich zwar riesig, trübte sich aber dann abrupt beim direkten Kontakt. Er ließ mich gleich beim kurzen Vorgespräch am Veranstaltungsabend dezidiert wissen, dass der Papst (partout war die Rede auf ihn gekommen) ihn überhaupt nicht interessiere und schon gar nicht, was er zu sagen habe. Weil unser Team aber die Präsenz unseres Künstlers so sehr schätzte, tat dies dem überaus herzlichen Empfang in der Folge keinen Abbruch. Sogar die von ihm geliebte Weinsorte war im Vorfeld ausfindig gemacht worden, um für ihn in jeder Hinsicht die womöglich schwierige Begegnung etwas zu erleichtern. Der ganze Abend war dann von einem sehr offenen, ehrlichen und gleichzeitig sehr respektvollen Austausch geprägt. Aber obwohl unser Künstlergast noch lange in die Nacht hinein mit einer kleinen übrig gebliebenen Gruppe diskutierte, blieb ich persönlich skeptisch und konnte immer noch nicht einschätzen, ob für ihn diese Begegnung auch tatsächlich Sinn gemacht hatte.

Am darauffolgenden Nachmittag entdeckte ich zwei versäumte Telefonanrufe von ihm auf meinem Handy, die in mir eher den Verdacht weckten, dass im Nachklang nun doch etwas schief gelaufen sein könnte. Ich rief ihn etwas eingeschüchtert zurück. Er duzte mich plötzlich und sagte dann etwas stockend, dass er sich entschuldigen möchte. Bitte, was!? Er habe nämlich am vergangen Gesprächsabend wenig freundlich manchen Fragen gegenüber reagiert. Ohne Zögern vertraute er mir viele Erfahrungen von verletzenden Ereignissen bei ähnlichen Veranstaltungen der letzten Jahre an. Aber das, was er am Vorabend erlebt habe, habe er auf diese Weise noch nie erlebt – und er konnte es zunächst gar nicht glauben. Der aufmerksame Empfang, das Hinhören und die langen ergiebigen Gespräche nach dem öffentlichen Dialog taten ihm wirklich gut. Die Erfahrung von Gemeinschaft. Er wolle uns allen schlicht nur Danke sagen. Und wenn wir ihn in Zukunft brauchen könnten, stünde er selbstverständlich zu unserer Verfügung. 

Nervosität und Diskursunfähigkeit hat auch vor der Kirche nicht Halt gemacht. Es ist offensichtlich leichter übereinander zu sprechen als miteinander; eher Vermutungen und Vorwürfen Raum zu geben als einer wirklichen Begegnung. Dennoch gelingt sie oftmals, entlastend und befreiend – wie ein Geschenk nach der Einsicht eigenen Versagens, wie es in der folgenden Erzählung zum Ausdruck kommt.

Ein aufgrund von Zusatzindikationen nicht geimpfter Pfarrer ist zu Hause an Corona erkrankt und hatte zu diesem Zeitpunkt keine Haushaltshilfe. Schleichend hat sich sein Zustand verschlimmert, sodass er nach einer Woche ins Krankenhaus überstellt werden musste. Dort gab es leider eine Behandlung, die ihn und andere Covid-Patienten trotz der einwandfreien medizinischen Betreuung doch menschlich belastet hat. Die panische Angst vor einer Infektion hat die Pflegenden zu großer Distanz verleitet, die von den Erkrankten als zusätzliches Leid schmerzlich empfunden wurde. Auch das Selbst-Schuldsein war als Vorwurf im Spiel.

In der Zeit dieses Krankenhausaufenthaltes hat sich der Bischof telefonisch beim schwer erkrankten Pfarrer gemeldet. Es war ein besorgtes, aber durchaus freundschaftlich und offen geführtes Gespräch – trotz der schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung des Priesters. Beide Seiten waren froh, in dieser angespannten Situation doch einigermaßen gut miteinander kommunizieren zu können. Vieles konnte an- und ausgesprochen werden. Auch die Perspektive für die Nachbetreuung nach dem Spitalsaufenthalt war Thema. Durch das Telefonat hat sich die Angst des Bischofs gelegt, in seiner Priesterschaft einen zweiten Todesfall wegen Corona beklagen zu müssen. Und beim Erkrankten gab es eine nachklingende Freude über das ehrliche Nachfragen seines Vorgesetzten und das Nicht-beschuldigt-Werden.

Zu einer direkten Begegnung kam es dann erst einen Monat nach dem Telefonat und zwar im Pfarrhof des mittlerweile genesenen Pfarrers. Der Grundton des Wiedersehens war herzlich – und doch: Ein nicht zu leugnender Aufklärungsbedarf lag in der Luft. Der Bischof hatte nämlich bei diversen Gelegenheiten zur dringlichen Empfehlung der Covid-Impfung auf den ungeimpften Priester verwiesen und seine enorme Angst thematisiert, ihn zu verlieren. Damit wurde der besagte Pfarrer unversehens zum Exemplum, das zum Umdenken motivieren sollte. Leider ist diese durchaus berechtigte Seite der Geschichte dem Betroffenen anders zu Ohren gekommen. Es wurde ihm mitgeteilt, dass der Bischof mit seinem persönlichen Leid Impf-Aufrufe mache und ihn als negatives Beispiel darstelle. Das hatte verständlicher Weise eine tiefe Enttäuschung zur Folge. Warum diese Indiskretion? Warum kein Verständnis für die wirklichen Beweggründe?

„Herr Bischof, warum haben Sie mich als abschreckendes Beispiel in der Diözese genannt?“ Die Frage war klar und präzise gestellt, ohne viel Diplomatie. Und sie wurde verbunden mit dem Hinweis, dass viele Ungeimpfte ausgegrenzt würden – leider auch von kirchlichen Vorgesetzten. Dem etwas überraschten Bischof fiel zuerst der Hinweis auf seine tiefsitzende Angst ein, wieder einen seiner aktiven Priester zu verlieren. Dann aber, nach etwas Nachdenken und Ruhe hat er sich zu einer Bitte um Entschuldigung durchgerungen. Es war für den Betroffenen befreiend. Der Bischof ging jedoch einen Schritt weiter. Er bat den sichtlich entlasteten Pfarrer um eine Antwort auf die Frage, wie er als  Letztverantwortlicher der Diözese mit aggressiv agierenden Menschen umgehen sollte, die die Impffrage zu einer Glaubensfrage hochstilisierten und ein Totalversagen der Kirchenleitung behaupteten? Auch dieser Anfrage hat es nicht an Klarheit und Emotion gefehlt. Der Pfarrer überlegte und gab zu, diese Sicht aufs Ganze nicht im Blick gehabt zu haben, sondern eher von der Sorge um Spaltung in seiner Gemeinde umgetrieben worden zu sein.

Der beidseitige Perspektivenwechsel und die Ehrlichkeit haben dem Pfarrer und dem Bischof gut getan. Das Gespräch in guter Atmosphäre und mit einem zusätzlich beruhigenden Tee wurde nach einer guten Stunde abgeschlossen – dankbar und mit Zuversicht, dass Verbitterung und Unverständnis nicht das letzte Wort behalten müssen. Der abendliche Klartext hat die menschliche Verbundenheit wiederhergestellt – sie wird dringend für alle noch offenen Herausforderungen gebraucht.

Die Freundschaft mit meinem mittlerweile Lebenspartner ist tatsächlich eine ziemlich beste Geschichte. Denn dass sich zwischen uns eine solche Nähe entwickeln sollte, das hätte sich niemand vorstellen können, als wir uns kennenlernten, schon gar nicht wir selbst. Es war auf einer Tournee eines freiberuflichen klassischen Orchesters nach Asien, an der wir beide als Musiker teilnahmen. Während ich bei diesem Ensemble, das auch in Wien sehr viele Konzerte gibt, schon seit Jahren als Musikerin dabei war, hatte Emil (der natürlich in Wirklichkeit anders heißt), noch Student und einiges jünger als ich, erst wenige Monate zuvor begonnen, dort mitzuspielen. 

Auf der Asienreise erschien ich ihm offenbar als die einzige Person unserer Gruppe, deren Gesellschaft erstrebenswert (oder zumindest vertrauenswürdig) war. Immer wartete er beim Einsteigen in den Bus, der uns regelmäßig zum Konzertsaal, Hotel oder nächsten Flughafen brachte, ab, bis ich auftauchte, um erst nach mir in denselben einzusteigen und sich dann unauffällig in meine Nähe zu setzen – gerade nah genug, dass wir uns eventuell unterhalten könnten. 

Ich erfuhr auf diesen Fahrten dann immer sehr viele interessante naturwissenschaftliche Fakten. Egal auf welches Stichwort hin – da war mein Gesprächspartner eine unerschöpfliche Wissensquelle. Ein „Nerd“ gewissermaßen 😉 Nach einigen Tagen war Emil auch in den langen Schlangen auf den Flughäfen in meiner Nähe, um mir beim Tragen meiner vielen „Binkerl“ behilflich zu sein, was mir sehr willkommen war. Im Laufe der zehntägigen Reise kamen wir so auf viele Stunden Gesprächszeit. Dabei stellte sich irgendwann heraus, dass Emil und ich aus völlig unterschiedlichen „ideologischen“ Milieus kamen und – wie ich es formulieren würde – die Welt fundamental anders deuteten. 

Ich: überzeugt katholisch, von Kindheit an Kraft aus einem innigen „frommen“ Glauben schöpfend; Emil dagegen: nicht getauft, allerdings dabei nicht bloß Agnostiker, nein, viel mehr ein „religiöser“ Atheist: jemand, der Gott als „Erfindung“ entlarvt und ablehnt, und (jede) Religion als ein vernebelndes, wenn nicht absichtsvoll in die Irre führendes Übel ansieht. Wahrheit würde allein in der Evidenz der Naturwissenschaft gefunden, was diese nicht eindeutig nachweisen kann, gebe es schlicht und ergreifend nicht. 

Hm. Herausfordernd. Irritierend auch für ihn: es hat ihn merkbar beschäftigt, dass ich als eine ihm sympathische und vernünftige Gesprächspartnerin und gewissermaßen auf gleicher Wellenlänge, gleichzeitig etwas auf diesen (aus seiner Sicht:) „irrationalen Blödsinn“ von Glauben gab.  (Wobei er das mir gegenüber nie so formuliert hat.) Aber auch ich habe mit der Zeit einen ziemlich weiten inneren Weg zurückgelegt – vieles habe ich neu sehen und gewichten gelernt durch die Realität unserer Freundschaft, die mir immer mehr bedeutete. Und ich bin das Wagnis eingegangen, Sachverhalte durch „seine Brille“ zu betrachten. Wie ungemein das meinen Horizont erweitert hat! Dabei bei mir und meiner eigenen Identität zu bleiben, meinen eigenen geistigen Nährboden nicht zu verlassen bzw. neue Zugänge zu ihm zu suchen, erforderte viel innere Arbeit, ja eine neue Suche nach Gott – und erfordert sie immer noch, jeden Tag neu.

Denn das uns Verbindende wurde für uns bald so unentbehrlich, dass aus Freundschaft eine Beziehung wurde. Ein Mensch besteht ja nicht nur aus seinem „Standpunkt“. Da sind auch noch Charakter und (ergänzendes) Temperament, gemeinsame Interessen, Alltagstugenden und ein ganz ähnlich gestricktes fast kindliches Bedürfnis nach Verbundenheit. Ich denke, all dies und vor allem letzteres hat uns vor bald drei Jahren zu einem Paar werden lassen. Und das, ohne dass es von seiner Seite bisher irgendeine Annäherung an Glaube gegeben hätte, früher unvorstellbar für mich. Warum dann diesmal? – -Es ist ein zuvor nicht gekannter innerer Friede, ein „Bei-mir-und-ich-selbst-Sein“, die mich von Beginn dieser ungewöhnlichen Freundschaft an begleitet und auf diesen Weg geführt haben. So unbekannt und offen ist nach wie vor, wohin die Reise geht und wie sie sich konkret gestalten wird. Und doch ist Gott da, auf immer neue Weise, die mich berührt und staunen lässt. 

 

Im Rahmen der Initiative

lädt die Akademie für Dialog & Evangelisation im Wiener Figlhaus zur Aktion #ZiemlichBesteGeschichten ein:

Weil viele kleine Schritte des Vertrauens von vielen Menschen jetzt notwendig und möglich sind.

Weil wir so dem allgemeinen Rückzug in verhärtete Fronten auf persönliche Weise entgegenwirken.

Weil jede und jeder Einzelne etwas beitragen und einen bewussten Schritt auf den Anderen zu machen kann

Weil wir uns gerade in der Ohnmacht der aktuellen Situation verpflichtet fühlen, etwas Positives zu initiieren.

Weil wir an die Wunder des Dialogs glauben, an denen wir alle mitwirken können.

Weil wir vor allem glauben, dass Gott mit jedem Menschen mitfühlt und niemanden ausschließt.